Im seit einigen Jahren sehr populären Shoreditch im Westen Londons regieren definitiv die Hipster. Von Pop-Up Einkaufsmeilen in Containern bis zum schicken Soho-House findet man hier inzwischen alles. Das LYLE’S ist noch nicht lange am Ort, an einer unspektulären Straße mit typischem Pub an der Straßenecke und gleich neben einem Pizzaladen. Nichts deutet auf Besonderes hin, außer dem einen Stern.

Eigentlich hatte ich mich sehr gefreut auf Unangepaßtes, und in Shoreditch war ich wirklich schon viel zu lange nicht mehr. Aber als das Taxi sich wegen Baustellen und sogar für London unsäglichem Stau 10 Minuten verspätet und ich das Lyle’s anrufe, reagiert die Bedienung im Restaurant kühl: wir schauen mal ob wir den Tisch auch für 20:15 bereithalten können…

Der Laden ist groß, laut, hell. Mit hohen Decken und einer Küche in einer Ecke des Raums, quasi offen. Einer der ‚jungen Türken‘ von London – junge Wilde würde man sie im deutschsprachigen Raum nennen – kocht hier, James Lowe. Seinen Erfahrungsschatz hat er im La Trompette und bei Heston Blumenthal im Fat Duck gesammelt, dann war er Head Chef im St. John Bread & Wine. Und jetzt ein Stern im Guide Michelin, und Nummer 54 bei den World’s 50 Best Restaurants, das ist eine Ansage!

Es gibt ein einziges Menü mit vier Gängen, wer das nicht mag, der hat Pech gehabt. Ich habe vergessen mich danach zu erkundigen, was mit Vegetariern passiert. Unvorstellbar, daß es für die nichts geben würde, hier im Hipster-Heaven. Andererseits hat sich das Lyle’s bis zu diesem Punkt nicht als besonders kundenfreundlich oder sogar flexibel gezeigt.

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Der Tisch ist noch da, und das Restaurant ganz voll. Ein sehr gemischtes Publikum: Ein paar ältere Gourmets die neugierig scheinen nach Neuigkeiten; und eine Menge junge Leute, die sich gutgelaunt einen besonderen kulinarischen Abend gönnen. Alles geht sehr locker von dannen, das Menü, ja? Ein Wein, ok? Kein Tischtuch, keine Fisimatenten. Es geht hier nur um’s Essen, und das sind die Macher sich sehr bewußt: das Brot ist absolut herrlich sauer und kommt mit einer wunderbaren Butter.

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Und dann kommen die Vorspeisen, eine nach der anderen von einer sagenhaften Wucht, auch in der Zierlichkeit zwischendurch: Ein paar grüne Blätter, der Länge nach zusammengerollt wie eine lockeren Zigarre, gefüllt mit Sauercrème und Weizenkörnern. Sehr fein, schmeckt eigentlich genauso wie Brot mit Butter und dann besser, und leichter. Sehr, sehr clever.

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Dann kommt eine Artischocke – und nicht alle mögen die… Hier ist sie gebacken, es gibt einen flachen Fisch dazu (tippe auf Butt), und eine süß-sauer-rauchige Emulsion. Und wieder ist das einfach perfekt als wilder Vor-Gang: Furchtlos lecker, voller Geschmack und Struktur, ohne Angst vor Gefühlen. Eindrücklich.

Aspargus, Walnut & Spenwood

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Die erste Vorspeise ist was Gemüsiges, mal dünner grüner, mal dicker weißer Spargel (später, als der Grüne ausgeht), vom Grill. Darüber Flocken eines fein geriebenen Käses, Kashkaval?, nicht zu salzig, und dazu eine Honig-Anchovis-Sauce mit einer senfartigen Schärfe. Alles zusammen simpel und superumami. (7+/10)

Dover Sole, Jersey Royals & Whey Butter

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Die zweite Vorspeise ist wieder Fisch. Gedünstet, und auf Kartoffeln. So einfach, so perfekt. Vielleicht zwar eine Spur zu lange gegart, die Sauce mit einer dezenten Säure die hundertprozentig zu den gestampften Erdäpfeln paßt. Es schmeckt wunderbar, die Teller werden alle leergegessen, aber sehr raffiniert ist das dann eigentlich doch nicht. (7/10)

Quail, Peas & New Season Garlic

Die Hauptspeise ist eine Wachtel, das Fleisch genau richtig zubereitet, zart und doch mit rechtem Biss, dabei nie zäh. Dazu gibt es Erbsen die, wie ich später lerne, roh vom Grill kommen, knallgrün also und halb verbrannt. Die ebenfalls grillierte Zwiebel hingegen schmeckt gut, die Sauce löst leider trotz Knoblauch und einer netten Säure keinen Wow-Effekt aus. Das war der am wenigsten begeisternde Gang an diesem Abend – warum ist das bloß immer wieder so mit den Hauptspeisen? (6+/10)

Ist man da eigentlich schon satt von all den Experimenten davor? Und könnte man dann den obligaten Fleischgang nicht einfach weglassen? Anscheinend nicht, er ist ja überall…

Baked Cream & Strawberries

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Auch der Nachtisch ist von einer Einfachheit, die Mut zeigt. Beeren mit Crème, alles ein bißchen häuslich und wieder nicht wirklich ins Schwarze getroffen. (6++/10)

Der Kaffee dazu ist der sauerste, den ich je geschmeckt habe. Und saurer Kaffee (mit einer ‚fruchtigen’ Note) ist ja momentan allenthalben die Norm. Meistens: leider, wie auch hier.

Unser Küchenreise-Rating

Das Lyle’s ist eine Offenbarung: junge Leute in der Küche, mit einer Selbstsicherheit die an Arroganz grenzt, und einem Gefühl für Geschmack, das man selten erlebt. Mit einer Präzision und einem Anspruch, der echt unbescheiden ist, und das auch über weite Strecken sein darf. Der Grund für die zurückhaltende ‚Benotung’ liegt in der fehlenden Komplexität: die können mehr! Ich wünsche mir, daß sie sich selber treuer werden, auf das verzichten, was sie glauben machen zu müssen, und nur das kochen, woran sie wirklich glauben. Und wenn das nur Vorspeisenhäppchen sind, dann soll das so sein. Denen wird schon was einfallen für Substanz.

Das Restaurant wird immer lauter, es sprudelt vor Lebensfreude, das Lyle’s wird bestimmt zu Gastro-Einstiegsdroge für junge Leute. Und das ist auch gut so. Onwards and upwards, sagt man dazu hier in London.

Restaurant Lyle’s in London (UK)

Bewertung Essen (?): 7 / 10
Küchenreise-Rating (?): 5 – unbedingt wieder
Guide Michelin: *
Gault Millau: n/a
Gusto: n/a
Küchenchef: Jamie Lowe
Adresse: Tea Building, 56 Shoreditch High Street,
London E1 6JJ
Telefon: +44-20-3011 5911
Web: lyleslondon.com
Kosten: Menü GBP 55/ Person
Angekündigter Besuch (?): Nein
Einladung (?): Nein
Extras (?): Nein
Alle Bewertungen beziehen sich auf den Zeitpunkt des Besuches. Unsere Wertungen reflektieren einzig unsere persönliche Meinung.

Blogroll: Was schreiben andere?

Miss Neverfull (2016) Lyle’s
ElizabethOnFood (2014) Lyle’s
Plum Places (2015) Passion and Proverance
The Picky Glutton (2017) Minimalist Shoredich restaurant
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2 Kommentare

  1. Moin,
    Der Käse bei dem Spargelgericht ist ,wie im Titel steht, der Spenwood. Das kommt so im Text dazu nicht rüber. Ansonsten sehr schön geschrieben.

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