Ein paar Wochen nach meiner Reise durch Vilnius sitze ich am Chefs Table eines gehobenen Restaurants, hunderte Kilometer entfernt. Neben mir ein junges litauisches Paar – leidenschaftliche Foodies, wie sich schnell herausstellt. Als ich sie frage, welches Restaurant in ihrer Heimatstadt sie am meisten beeindruckt hat, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen – und im Duett: „Demoloftas“.
Ich muss lächeln. Ich habe in Vilnius drei der vier Michelin-Sterne-Adressen besucht, und es war eben dieses Restaurant, das mich am meisten überzeugt hat. Aufgrund des Essens, aber auch wegen der der Geschichten, die dort erzählt werden.

Exposition: Der Schritt in eine andere Welt
Schon beim Eintreten wird klar: Das hier wird kein gewöhnlicher Abend. Das Restaurant liegt etwas abseits vom Stadzentrum in einem ehemaligen Industriegebäude. Klare Linien, Beton, dunkles Holz. Die Tische wirken schlicht, aber einladend. An den Wänden hängen Kunstwerke, der grosse Küchenblock steht wie ein Altar in der Mitte des Raums – fast sakral in seiner Präsenz.

Bevor ich überhaupt richtig verschnaufen kann, setzt sich ein Herr aus dem Service an meinen Tisch. Zunächst stellt er mir jedes einzelnes Teammitglied mit dem Vornahmen vor. Ich bin ein wenig überrumpelt, doch dann erzählt er mir die erste Geschichte des Abends: die Geschichte des Hauses.

Einst, so sagt er, war hier eine kommunistische Fabrik. Irgendwann um 2018 kann dann die „Queen of Lofts“ – so nennt man sie in Vilnius – und verwandelte die Räume in ein zweistöckiges Loft. Mit allem, was dazugehört: Küche, Bad, oben eine offene Galerie mit Schlafzimmer. Praktischerweise ist ihr Mann ein renommierter Innenarchitekt, und so verwandelten sie das Loft gemeinsam in ein „House of Things“: einen Ausstellungsraum für Design, Kunst und Architektur.
2021 eröffnete in diesen Räumen dann ein Café. Tagsüber Frühstück, Brunch oder Lunch. Und dann kam Tadas Eidukevičius. Mit ihm begann ein neuer Abschnitt. Abends wurde aus dem Café ein Ort des feinen Essens, der Geschichten, und der Idee dass Kulinarik und Kunst sich wunderbar ergänzen.

Heute trägt das Demoloftas einen Michelin-Stern. Und die Menschen, die hier arbeiten, erzählen nicht nur von der Herkunft der Zutaten. Sie erzählen Geschichten.
Aufbau: Ein Menü wie ein Roman
Die nächste kleine Geschichte finde ich auf der Menükarte. Dort wird provokant die Frage gestellt: Ist Kulinarik Kunst. Die Antwort des Teams des Restaurant Demoloftas fällt differenziert aus. Nein, nicht immer. Und nein, das muss sie auch nicht sein. Die Grundlage ist stets solides Handwerk. Doch wenn dieses Handwerk genutzt wird, um Ideen zu transportieren, Debatten anzustossen, dann kann aus Kulinarik Kunst werden.
Davon inspiriert entscheide ich mich für das grosse „Author’s Dinner“ – zehn Gänge (EUR 115), dazu die Weinbegleitung (EUR 75). Schon jetzt lässt isch sagen: auch ohne Debatten zur Kunst wird dieses Menü köstlich schmecken. Doch wer sich darauf einlässt, wird mehr erleben.

Der Abend beginnt mit einem Glas Human 21 Champagner, ein knochentrockener Blanc de Blanc aus der Region von Reims. Dazu wird mir „Aspic from the oceans“ gereicht. Das Gericht basiert auf dem traditionellen litauischen Aspik, wie ihn schon die Mutter des Chefs zubereitet hat, und dessen Zubereitung auch bei Kochprüfungen in Vilnius regelmässige überprüft wird. Normalerweise mit Fleisch zubereitet, werden diese hier mit Tomaten und Algen ersetzt.
Danach drei kleine Häppchen:
- Ein “Spurgos”, das traditionelle litauische Quarkbällchen, hier gefüllt mit geräuchertem Aal.
- Sauerrahm mit Kräutern und Kapern, dazu Zwiebelchips. Ein Gericht mit Teamgeschichte, beim allwöchentlichen Personaldinner bringt immer jemand aus dem Team diese Chips mit.
- Und schliesslich ein Stück Tortilla: Die Basis sind Kartoffeln, ein einfaches litauisches Grundnahrungsmittel, die Umsetzung ist inspiriert vom der Zeit, die Tadas Eidukevičius in Spanien verbracht hat.
Wendepunkt: Der Moment, in dem ich glauben wollte
In der Zwischenzeit führt mich vorwiegend ein englisch-deutscher Herr aus dem Service durch den Abend – erneut mit einer Souveränität, die nur Gutes für die Zukunft der litauischen Gastronomie verheisst.

Er stellt mir das nächste Gericht vor: in einem kleinen Glasschälchen befinden sich gedämpfte, fein gehackte Austern, Kräuter, eingelegter litauischer Winterspargel und ein Granité vom Kopfsalat. Eine schöne Kombination: Frisch, meereige Aromen und grüner Kräutergeschmack. Und dann dieser Winterspargel – ich habe noch nie von diesem gehört oder ihn gar gegessen. Doch es ist immer interessant, lokales kennenzulernen.
Oder ist diese Komponente nur Bezug nur eine Konstruktion?
Propaganda war ja über viele Jahrzehnte ein prägender Bestandteil des Lebens in Litauen. Sie gaukelte of Dine vor, die es so nicht gab. Und genau das, erklärt mir der Herr aus dem Service später, ist hier der Punkt. Den litauischen Winterspargel gibt es nicht. Alles Propaganda – es waren schlicht Schwarzwurzeln. Ein Gericht, das nicht nur schmeckt, sondern zum Nachdenken anregt.

Was folgt, ist ein internationaler Gang. In einem italienischen Restaurant wäre das die Pasta. Davon inspiriert serviert man hier Tintenfisch-Tagliatelle, mariniert in japanischem Koji, dazu Plankton, afrikanisch inspirierten gesalzenen Zitronen, Microgreens und kleinen molekularen Gel-Tropfen aus der skandinavischen Avantgarde.
Die Tagliatelle haben eine schöne Konsistenz, sind geschmacklich zurückhaltend und lassen anderen Zutaten Raum. Besonders auffällig die intensive Salzzitrone (und scharfer Pfeffer?), welche dem Ganzen Spannung geben. Ein weiteres starkes Gericht.

Doch nun zum Thema „Aliens“: Invasive Arten breiten sich im Baltischen Meer aus – eine Herausforderung für das Ökosystem, manchmal aber auch eine Gelegenheit für überraschende Gerichte. So wie dieses hier: ein Gang, der ausschließlich aus invasiven Arten zubereitet wurde. Geschmacklich interessant, politisch pointiert – und ein weiteres Beispiel dafür, wie das Menü nicht nur ernährt, sondern erzählt.

Den Reigen der Vorspeisen beschliesst das Thema “Liebe” ab. Die Franzosen lieben Butter, die Litauer lieben Zwiebel (und Butter schadet bekanntlich nie). Am Teller eine Kombination der beiden Kulturen Ein Gericht, mit welchem ich zunächst wenig anfangen kann. Es ist eigene ungewohnt, beinahe sperrig. Doch der Nachgeschmack hinterlässt einen zweiten Eindruck, etwas bleibt. Und ich frage mich – verliebe ich mich gerade in die litauische Küche?
Höhepunkt: die Wurzel des Problems

Die Wurzel des Problems beim klassischen Hauptgang? Es ist meist der „Prime Cut“, der beste, aber seltenste Teil des Tieres. Begrenzt verfügbar, teuer, oft überschätzt.
Im Demoloftas wird dieses Problem umgedreht – wortwörtlich. Statt Fleisch kommt nun die Wurzel auf den Teller: Geräucherter und in Honig gekochter Kohlrabi, kombiniert mit anderem Wurzelgemüse, dazu eine Sauce aus Kurkuma und Salzzitrone.
Der Kohlrabi ersetzt den Prime Cut: fest, fast wuchtig in der Textur, beinahe fleischig, dabei von subtiler Erdigkeit. Die Sauce bringt Wärme und Frische. Ein Gericht, das auf nichts verzichten muss – und doch alles anders macht. Toll!
Auflösung: Das Dessert
Zum Abschluss folgt eine kleine Reihe an Desserts: „Experimental Garden“, grün und fruchtig. Dann ein Teller mit einem modernisierten Reispudding: mit bei 4 Bar karamellisierter Milch und einem „Kaviar“, dessen Geschmack an Rosinen erinnert. Es folgt eine optisch an einen Macaron erinnernde Kleinigkeit, eine Kindheitserinnerung des Chefs an die (damals noch sehr kalten) Winterabende, an welchen es heissen Kümmeltee und gezuckerte Preiselbeeren gab – hier modernisiert am Teller. Zum Kaffee dann schliesslich, serviert in einer Tasse einer litauischen Töpferin, zwei Pralinen, die Chef Tadas Eidukevičius gemeinsam mit der ältesten Schokoladenmanufaktur des Landes entwickelt hat.
Beim Espresso reflektiere ich den Abend: Kann Essen Kunst sein? Ja! Doch nur dann, und auch dem Statement auf der Speisekarte stimme ich zu, wenn das zugrunde liegende kulinarische Handwerk tadellos ist.
Das Menü im Demoloftas war handwerklich präzise umgesetzt und geschmacklich hervorragend. Die Gerichte waren nicht nur technisch gekonnt zubereitet, sondern auch voll kreativer Ideen, die die Grundlage für die erzählten Geschichten bildeten.
Die Kombination aus einem kulinarisch starken Menü, einem wirkungsvoll inszenierten Storytelling-Konzept und einem herausragenden Service machte diesen Abend für mich zu etwas Besonderem – und zu einem Erlebnis, das nachhallt.
Das Küchenreise Rating
Demoloftas in Vilnius erzählt Geschichten auf dem Teller – der Michelin-Stern ist für ein starkes Menü mit Kunst und Storytelling mehr als gerechtfertigt!
Restaurant Demo / Demoloftas (LT)
Bewertung Essen (?): | 7+ / 10 |
Küchenreise-Rating (?): | 5 – unbedingt wieder |
Guide Michelin: | * |
Gault Millau: | – |
Gusto: | – |
Küchenchef: |
Tadas Eidukevičius |
Adresse: |
LT – 0311 Vilnius, T. Ševčenkos g. 16A |
Telefon: | +370 665 00508 |
Web: | demoloftas.lt |
Kosten: |
Farmers Table Menu EUR 75 |
Angekündigter Besuch (?): | Nein |
Einladung (?): | Nein |
Extras (?): | Nein |
Alle Bewertungen beziehen sich auf den Zeitpunkt des Besuches. Unsere Wertungen reflektieren einzig unsere persönliche Meinung. |